Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur und Medien - Prof. Dr. Oliver Jahraus
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Franz Kafka Monographie

Schreibprozesse und Machtapparate

Im Jahre 2006 ist meine Einführung in Leben und Werk von Franz Kafka im Reclam-Verlag erschienen. Das Buch besitzt drei Schwerpunkte:

1. Leben und Biographie
2. Kafka und Kafkaforschung
3. Werk und Interpretation

 

1. Leben und Biographie:

Die Darstellung stützt sich auf die Vorarbeiten von Klaus Wagenbach und neuerdings Reiner Stach und Peter-André Alt und setzt sich kritisch von den Biographien von Max Brod und Ernst Pawel ab. Insbesondere steht dabei die Differenz und das Verhältnis von biographischer Forschung und Kafkas eigenem Lebensentwurf im Blickfeld. Der biographische Abschnitt soll den Leser nicht zu einer biographischen Lesart von Kafkas Texten führen, sondern ihm vielmehr eine kritische, reflektierte Position vermitteln, wie Leben und Werk differenziert aufeinander bezogen werden können. Es soll deutlich werden, wie eng Kafkas eigener schriftlich fixierter Lebensentwurf einer Inszenierungs- und Literarisierungsstrategie folgt, die permanent Leben in Literatur verwandelt. Ich möchte deutlich machen, dass und wie diese Strategie die Funktion erfüllt, das eigene Leben in ein literaturfähiges Substrat umzuwandeln und eine eigene Rolle als Schriftsteller ohne Schriftstellerberuf zu definieren. Es geht also darum, literarisch erzeugte Mythologeme des traumatisierten Dichters zu entmythologisieren. Denn gerade damit wird der Blick auf Kafkas Schreibprogramm geöffnet, und es lässt sich besser beschreiben, wie sich Kafkas Texte konstituieren.

Grundthese des Buches ist die Idee, das Leben und Werk über das Schreiben miteinander vermittelt sind. Das Schreiben bestimmt nicht nur das Leben, sondern liefert auch gleichzeitig einen Schlüssel zum Werk. Das deutlichste Beispiel hierfür bieten Kafkas Äußerungen in seinen Briefen an Felice Bauer (1912/1913) über seine Erzählung Das Urteil. Kafka spielt ein doppeltes Spiel mit Widmung und Namen. Er verweist auf die Übertragbarkeit der Namen und figuralen Konstellation im Verhältnis von Vater und Sohn einerseits und Sohn und Verlobter andererseits, verneint aber zugleich die Möglichkeit einer Interpretation. Er lockt also mit einer biographischen Interpretation und verwirft sie gleichermaßen.

2. Kafka und Kafkaforschung:

Vor den Einzelinterpretationen soll dieses Kapitel zunächst einmal in die Interpretationsproblematik einführen, die an Kafkas Texten geradezu paradigmatisch und exemplarisch auftritt. Das Ziel ist es, diese Problematik produktiv zu nutzen, indem man sie als Ausgangspunkt nimmt, um am Beispiel von Kafkas Texten nach dem Charakter von Literatur und Interpretation prinzipiell zu fragen.

 

Das Problem der Interpretation:

Dazu soll in einem ersten Schritt die Interpretationsproblematik dargestellt werden (Susan Sontag). Die Interpretationssituationssituation ist gekennzeichnet durch Unbestimmtheit, Widersprüchlichkeit der Interpretation und der Suche nach bestimmten Legitimationsinstanzen der Interpretation. Eine solche Legitimation können Interpretationen in der Biographie des Autors Kafka finden. Daneben gibt es ideologische Vorgaben, die die Unbestimmtheit der Interpretationen durch Festlegung auf eine Instanz bzw. auf eine Ideologie auflösen. Mit diesem Schema lässt sich die Ausdifferenzierung von Interpretationsmodellen bei Kafka erläutern. Es gibt demnach neben der dominanten biographischen die religiös-theologische Deutung, die philosophische Deutung im weiteren Sinne bzw. die existentialistische Deutung im engeren Sinne, die juristische Deutung, die psychologische Deutung im weiteren Sinne bzw. die psychoanalytische Deutung im engeren Sinne (vor allem mit dem Blick auf ödipale Konstellationen, die auf Kafkas Freud-Rezeption zurückgreifen kann), die expressionistische Deutung (Vater-Sohn-Konflikte als Generationenkonflikt) – um nur die wichtigsten Modelle zu nennen.

 

Interpretationsmuster:

Aus dem Muster, das all diesen Modellen gemeinsam ist, lässt sich in einem zweiten Schritt eine allgemeine Struktur der Kafka-Interpretation ablesen: Es wird eine sinngebende Instanz (das Leben Kafkas, Gott, Gericht, u.ä.) gesucht, die auf den Text projiziert wird. Dies soll den Blick meines Lesers sensibilisieren und schärfen, um solche Interpretationsmuster erkennen und durchschauen zu können.

So wird werden die Konstellationen zwischen Machtinstanz und ohnmächtiger Figur wie z.B. zwischen Schloß und Josef K., Gericht und K., zwischen Vater und Sohn, als Instanzen der Sinnzuweisung und der Sinnverweigerung selbst interpretierbar. Gerade indem von den konkreten Machtinstanzen der Texte abstrahiert wird, kann die Sinnsuche des Protagonisten 'vereindeutigt’ werden. Wenn das Gericht beispielsweise zu einer göttlichen Instanz wird, kann das Sujet des Textes religiös z.B. als Verhältnis von Gott und Mensch gelesen werden.

 

Das hermeneutische Modell:

Daraus lässt sich nun in einem dritten Schritt wiederum ein allgemeines hermeneutisches Modell für Kafkas Texte ableiten. Die Interpretationssituation des Lesers wird auf den Text und sein Sujet selbst projiziert. Ich will so auch eine ‚hermeneutische Lesart’ vorstellen, die die Suche des Helden nach Gerechtigkeit, Anerkennung oder Befreiung mit der Sinnsuche des Lesers überlagert.

 

Die literaturtheoretischen Folgerungen:

In einem vierten Schritt können die allgemeinen literaturtheoretischen Folgerungen gezogen werden. Dabei wird gezeigt, inwiefern diese Interpretationssituation und die ihr textuell zugrunde liegenden Strukturen für die Bestimmungen eines allgemeinen modernen Literaturbegriffs fruchtbar gemacht werden können. Kafkas Literatur gilt daher als Sonder- und Beispielfall von Literatur gleichermaßen: Sie offenbart, was Literatur in der Moderne 'eigentlich’ ist. Literatur kann auf diese Weise am Beispiel Kafkas demnach als eine hermeneutische Disposition definiert werden: Literatur ist der Prozess ihrer Interpretation. Dieser Prozess steht im Spannungsfeld, das den Prozess erst initiiert und am Laufen erhält, von Verstehen und Nicht-Verstehen, Lesbarkeit und Unlesbarkeit bzw. Lesbarkeit und Schreibbarkeit (R.Barthes), schließlich von Interpretationsprovokation und Interpretationsverweigerung. Literatur ist nur insofern interpretierbar, wie sie sich auch gegen eine Interpretation stellt. Ausschlaggebend hierfür ist bei Kafka die Einheit einer Unvereinbarkeit: die Schilderungen realistischer Umstände und die gleichzeitige Verweigerung ihrer (Be)Deutung und Deutbarkeit. Kafkas Literatur zeigt so die Einheit der Differenz von Sinnprovokation und Sinnverweigerung.

 

Kafkas Modernität:

 

In einem fünften Schritt kann schließlich die Modernität Kafka über seine Interpretationsdisposition erläutert werden. Zwar können literahistorische Einbettung in die literarische Moderne und in den Kontext expressionistischer Literatur Facetten in den Sujets der Texte erhellen, z.B. die Problematisierung des Individuums und allgemein gesellschaftliche, aber insbesondere auch technologische, medientechnologische, sozioökonomische und kulturelle Modernisierungsprozesse und ihre Auswirkungen auf Individuen oder Familien, die Probleme der Anonymisierung des Menschen in den komplexen Institutionalisierungsformen oder die Totalisierung von Mächten jenseits des Individuums, aber sie betreffen nicht das konstitutive Element in seiner grundlegenden definitorischen Funktion von Literatur. Das eigentlich Moderne an Kafka ist nicht allein und grundlegend die literarische Reflexion von Modernität oder modernen Prozessen, sondern ihre Einbettung in problematische, krisenbehaftete und generell scheiternde Sinnbildungsprozesse. Das Moderne an Kafka ist die spezifische Literarizität seiner Texte, ist das, was seine Texte zur paradigmatischen und exemplarischen Literatur macht.

 

3. Werk und Interpretation:

Behandelt werden sollen die drei großen Romane: Der Verschollene (Amerika) (dabei insbesondere herausgehoben auch das erste Kapitel, das als Erzählung erschienen ist: Der Heizer), Der Proceß und Das Schloß.

Daneben insbesondere die großen Erzählungen, die zu Lebzeiten Kafkas veröffentlicht worden sind: Das Urteil, Die Verwandlung, In der Strafkolonie, Der Landarzt, Vor dem Gesetz, Das nächste Dorf, Eine kaiserliche Botschaft, Die Sorge des Hausvaters, Ein Bericht für eine Akademie, Ein Hungerkünstler, Erstes Leid, Eine kleine Frau, Josefine oder das Volk der Mäuse. Daneben auch: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, Beschreibung eines Kampfes, Der Schlag ans Hoftor, Gibs auf!, Der Bau, Kleine Fabel, Von den Gleichnissen.

 

Editionsgeschichte:

Ein kurzer Vorspann soll die Editionsgeschichte erhellen, um dem Leser deutlich zu machen, dass die Editionsgeschichte selbst, insbesondere durch Max Brod, Kafka z.T. verfälscht hat. Max Brods Leistung ist hier differenziert einzuschätzen, weil er zwar die nicht publizierten Kafkas Texte als erster überliefert hat, aber in der Überlieferung die konkrete Form der Texte verschleiert hat, z.B. durch Zusammenstellungen oder hinzugefügte Überschriften (Beispiel: Von den Gleichnissen, Gibs auf). Die Editionsgeschichte soll zugleich als Blick auf die Textgenese vorgestellt werden.

 

Textanalysen:

Die Textanalysen sind in Einzelabschnitte gegliedert; die entscheidenden und wichtigsten Texte, die drei Romane und die großen Erzählungen, erhalten eigene Abschnitte, die Reihung ist prinzipiell chronologisch. Kleinere Texte wie z.B. Von den Gleichnissen werden im Hinblick auf ihre poetologische Funktion besprochen. – Die Textanalysen orientieren sich an vier Punkten: Forschungsüberblick, dichte, textanalytische Beschreibung, Werkanalyse,

 

hermeneutisches Modell:

a) Die Ausführungen zu den einzelnen Texten sollen gleichermaßen prominente Interpretationen berücksichtigen, sie z.T. referieren und in ihren Mechanismen vorführen und dabei schließlich auch kritisch überprüfen. Dies dient auch dazu, dem Interpretationsdilemma (s.o.) zu entgehen; vielmehr soll auch ein souveräner Umgang mit Interpretationen vorgeführt werden, der die Frustrationserfahrungen, wonach jede neue Interpretation den Interpretationsreigen nur erweitert und sich in das bestenfalls beliebige, schlimmstenfalls widersprüchliche Spiel einreiht, vermeidet.

 

b) Dazu ist es zuerst notwendig, quasi phänomenologisch sich einer Interpretation im Sinne eines expliziten Sinnkonstrukts oder einer solchen Sinnzuschreibung zu enthalten und stattdessen die Textstrukturen im Hinblick auf Erzähltechnik und Sujetentfaltung in strukturaler Manier genau und dicht zu beschreiben. Es geht darum, so weit wie möglich von inhaltlichen Identifikationen, die der Text nicht stützt, abzusehen. Daher kommen auf der anderen Seite die konkreten Inhalte stärker ins Blickfeld: vor allem die familialen Konstellationen in unterschiedlichen Familiensegmenten, in deren Zentrum ein männlicher Protagonist steht, bzw. generell die sozialen Konstellationen, in denen das Verhältnis der Figuren problematisch in seiner Asymmetrie von Macht und Wissen ausgehandelt wird (Strafkolonie, Josephine, Hungerkünstler, Bericht für eine Akademie).

 

c) Die werkanalytische Perspektive impliziert, Kafkas Werk als Einheit zu betrachten. Dies lässt sich auch biographisch stützen, weil ein überwiegender Teil der Werkproduktion in einem – selbst an der kurzen Lebensspanne gemessen – kurzen Zeitabschnitt ab 1912 entstanden ist. Schon aus dieser textgenetischen Situation heraus lassen sich die einheitsstiftenden Strukturmomente, die das Kafkaeske an Kafkas Literatur ausmachen, aufzeigen. Mit Blick auf markante und wiederkehrende Strukturen (z.B. Legitimation durch Dritte) sollen die Texte als wechselseitige Folie gelesen werden.

 

d) Und schließlich soll als eigener Interpretationsansatz, das hermeneutische Modell behutsam erprobt werden. Es macht dem Leser den Vorschlag, Kafkas Texte nun selbst als Interpretationsakte und als Sinnkonstitutionsprozesse zu interpretieren. Dabei muss gezeigt werden, inwiefern die Texte es erlauben, konkrete situative Konstellationen als Momente im Sinnkonstitutionsprozess zu identifizieren. Der Vorschlag des hermeneutischen Modells rechtfertigt sich durch ein höheres Reflexionsniveau, weil es nicht nur den Text hermeneutisch identifiziert, sondern auch diesen Identifikationsakt als Verstehensakt reflektiert.

 

Gleichzeitig wird dieses hermeneutische Modell mit zwei anderen neueren Interpretationsparadigmen konfrontiert werden, mit der dekonstruktivistischen Kafka-Lektüre und mit der medientheoretischen Vereinnahmung. Die dekonstruktivistische Lektüre beruht auf der Figur der Autoreflexivität, die zeichentheoretisch untermauert wird und gleichzeitig andere Interpretationsparadigmen, z.B. die juristische, zeichentheoretisch wiederaufnimmt (Derrida: Préjugés). Sie exekutiert die Interpretationsproblematik zeichentheoretisch, indem sie den Zeichenprozess mit Kafkas Textprozess identifiziert, also die Interpretation generell in einem differentiellen Prozess auflöst. Dekonstruktive Interpretation heißt, die dekonstruktiven Prozesse der Literatur an Kafka selbst aufzuzeigen, wo die Texte „transzendentale Signifikate“ (z.B. Gericht oder Gott) hervorbringen und gleichzeitig widerrufen.

 

Das medientheoretische Modell, das Kafkas Werk als Beitrag und als Reflexion neuer Medientechnologien (Telefon, Schreibmaschine, Kino) liest und dabei selbst auf die Medialität von Literatur und die Materialität der Kommunikation abhebt (Kittler, Scheffer). Die Konfrontation zwischen der Immaterialität des Sinnspiels und der Materialität der Literatur erscheint mir eine zukunftsträchtige Schlussperspektive des Bandes abzugeben.